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sascha lobo bringt es so ziemlich auf den punkt: shortsighted stupidity

Warum die Vorratsdatenspeicherung noch immer Fans hat

Durch ein Interview von Sigmar Gabriel im Deutschlandfunk ist die Vorratsdatenspeicherung – ohnehin ein ständig wiederkehrender Netz-Zombie – wieder ins Gespräch gekommen. Dabei steht es um dieses Überwachungsinstrument alles andere als gut. Mittlerweile hat es einen bemerkenswerten Verwesungsstand erreicht:

  • Die Wirksamkeit der Vorratsdatenspeicherung konnte nicht bewiesen werden.
  • Sie ist mehrfach von Gerichten verboten oder eingeschränkt worden.
  • Sie wurde jüngst in den Niederlanden abgeschafft.
  • Sie hat den Terror in Frankreich nicht verhindern können (Dort gibt es die Vorratsdatenspeicherung.).
  • Sie wird von nur 11 Prozent der Bürger für gut gefunden.

Die Vorratsdatenspeicherung ist zudem höchst umstritten und damit eine Garantie für Gabriel, heftig attackiert zu werden, insbesondere auch aus der eigenen Partei. Trotzdem ist Sigmar Gabriel wie Angela Merkel großer Fan der vorauseilenden Bürgerüberwachung. Aber warum eigentlich? Weshalb hat Gabriel ein Ganzjahreszelt unter dem Ohrfeigenbaum der Internetdiskussion aufgestellt?

Die politische Psychologie der Vorratsdatenspeicherung basiert im Wesentlichen auf zwei ineinander verflochtenen Motivationen. Sie zu erkunden offenbart das Dilemma, in das sich die Politik im Bereich der Überwachung manövriert hat. Und nebenbei hilft es, das Drama mit der noch immer stattfindenden, illegalen Massenüberwachung durch NSA, GCHQ und den durchgedrehten deutschen Behörden zu verstehen.

1) Die Politik und der kommende Anschlag

Irgendwann wird in Deutschland ein terroristischer Anschlag verübt werden. Eventuell. Man kann streiten, wie wahrscheinlich das ist, möglich ist es aber definitiv. Dieser Tag wird eine Katastrophe werden, in allererster Linie natürlich für die Opfer. In zweiter Linie wird sich die Diskussion über Grundrechte, Sicherheit und Überwachung dramatisch verschieben. Und davor hat die Politik Angst.

Die Schuld werden dann die Attentäter tragen, klar. Aber beim Thema Terrorismus reagiert die Bevölkerung irrational und angstsatt. Die Empörungsöffentlichkeit wird neben den juristisch Schuldigen auch unabhängig von Beweisen, Vernunft und Differenzierung politisch Verantwortliche suchen. Angeheizt vom boshaften Bundes-Boulevard.

Deutsche Behördenvertreter entwickeln mit Unterstützung von CDU, CSU und SPD seit Jahren vorsorglich ein Narrativ: Nur mit der Vorratsdatenspeicherung könnten kommende Bedrohungen entschärft werden. Dieses Narrativ ist zwar schlicht falsch, aber liegt so nahe, dass es sich bei einem tatsächlichen Anschlag durchsetzen wird. Denn Zeiten der Angst sind immer auch Zeiten der holzschnittartigen Vereinfachung. Im sicherheitsfixierten Deutschland sowieso.

Die politischen Fans der Vorratsdatenspeicherung wollen sich immunisieren gegen eine boulevardgetriebene Suche nach Verantwortlichen im Anschlagsfall. Ihr Beharren auf der Vorratsdatenspeicherung ist eine Art politische Lebensversicherung, der Wunsch, im Worst-Case-Szenario nicht angreifbar zu werden.

2) Die Behörden und der ewige Kampf

Mit der Furcht vor der Dynamik einer unbarmherzigen Öffentlichkeit im Fall eines Anschlags geht ein grundsätzliches Problem der Sicherheitsapparate einher. Niemals wird man von einem Innenpolitiker oder einem Behördenmitarbeiter hören, dass man jetzt aber über genug Überwachungsinstrumente verfüge.

Die Strategie der Absicherung für den Katastrophenfall verleitet die Sicherheitsbehörden, mit den bestehenden Instrumenten grundsätzlich unzufrieden zu sein. Auch deshalb findet immer mehr und mehr Überwachung statt.

Das bedeutet, dass die Sicherheitsfraktion stets etwas für „wahre“ Sicherheit völlig Unersetzliches braucht, wofür sie kämpfen kann. Nur so glaubt sie, im Notfall den Vorwürfen des Behördenversagens begegnen zu können – ja, hätten wir die Vorratsdatenspeicherung gehabt, wäre das alles nicht passiert.

Es wird also für immer und immer ein Instrument geben, auf dessen umgehende Einführung der Sicherheitsapparat pocht. Dabei ist essenziell, dass es zum einen noch nicht eingeführt ist, sonst kann man es schlecht fordern und als Schuldableiter benutzen. Und zum anderen muss es eine argumentative Wucht in der Öffentlichkeit entfalten können.

Aus dieser Perspektive ist der große, andauernde Streit – den auch Netzaktivisten massiv forcieren – sehr produktiv. „Wir haben es ja gesagt“ funktioniert besser, wenn alle wissen, dass man es gesagt hat. Denjenigen, die heute gegen Überwachung kämpfen, wird deshalb am kommenden Anschlag absurderweise eine Mitschuld unterstellt werden.

Tatsächlich ist es aber andersherum: Wer heute unwirksame Instrumente wie die Vorratsdatenspeicherung fordert, wird sich nach seiner Mitverantwortung fragen lassen müssen – weil Zeit und Geld von funktionierenden Ermittlungsinstrumenten abgezogen werden.

Es bleibt die Frage: Sind alle, die die Vorratsdatenspeicherung fordern, nur an der Absicherung der eigenen Position interessiert? Natürlich nicht. Auch als Kritiker muss man den politisch treibenden Kräften ein echtes Interesse an Sicherheit der Bevölkerung zugestehen.

Ihr merkwürdiges Beharren auf der dysfunktionalen, grundrechtswidrigen Vorratsdatenspeicherung zeigt aber, dass sie die bequeme Variante der unbequemen, nervigen, komplizierten Realität vorziehen. Und diese messbare Realität offenbart, dass Überwachung keinen hundertprozentigen Schutz bringt: Die meisten terroristischen Anschläge stammen von längst behördenbekannten Kräften.

Die Attentäter im Vorratsdatenspeicherungsland Frankreich etwa waren zum Teil einschlägig vorbestraft oder gar in Terrorcamps, zudem hatten sie Kontakt zu radikalen Islamisten. Wenn dieses Wissen der Behörden nicht ausreicht, um Anschläge zu verhindern, kann die Lösung nicht sein, zusätzlich noch alle Verbindungsdaten aller Bürger zu speichern.

tl;dr

Die Vorratsdatenspeicherung funktioniert zwar nicht – aber wird als politisches Mittel der Absicherung für den Anschlagsfall betrachtet.

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